Die wahre Ursache deiner Schmerzen: Warum es nicht immer eine Verletzung ist.
Dein Schmerz spricht zu dir. Hörst du ihm zu?
Der Schmerz ist der Inbegriff des Unangenehmen. Wahrscheinlich ist er das, was wir im Leben am stärksten meiden wollen. Wenn der Schmerz da ist, zählt nichts anderes mehr: kein Geld, keine Freizeit, keine Arbeit und manchmal nicht einmal mehr unsere Beziehungen. Er ist der am meisten gefürchtete Reiz.
Und doch ist der Schmerz von grundlegender Bedeutung.
Er ist das Megafon, mit dem unser Körper uns zuruft, dass etwas nicht in Ordnung ist. Er ist das Signal, das uns zwingt, uns zu verändern, zu kämpfen oder uns zurückzuziehen, um zu heilen. Das Problem ist, dass uns fast nie beigebracht wurde, seine Botschaft richtig zu deuten.
Das grosse Paradox: Schmerz ohne Schaden und Schaden ohne Schmerz
Als Erstes müssen wir mit der weitverbreiteten Vorstellung aufräumen, dass Schmerz ein direktes Signal für einen Körperschaden ist. Das ist er nicht, und er ist nicht einmal immer proportional dazu.
Der Beweis dafür liegt in zwei Extremen, die wir alle kennen:
- Es gibt Schmerz ohne offensichtlichen Schaden. Das klarste Beispiel ist der Phantomschmerz, bei dem ein nicht mehr vorhandenes Körperteil weiterhin echte und quälende Schmerzen verursacht. Oder die Millionen von Menschen mit chronischen Schmerzen, deren Rücken oder Nacken schmerzt, ohne dass ein Test eine rechtfertigende Verletzung zeigt.
- Es gibt Schaden, sogar schweren, ohne Schmerz. Denk an eine echte Gefahrensituation, wie einen Unfall. Es ist üblich, schwere Brüche oder Wunden zu erleiden und in diesem Moment absolut nichts zu spüren. Dein Körper weiss in seiner unendlichen Weisheit, dass Fliehen oder Überleben in diesem Augenblick wichtiger ist, als einem gebrochenen Bein Aufmerksamkeit zu schenken.
Der Schmerz: eine Entscheidung deines Gehirns
Wenn Schmerz also kein Schadensmesser ist, was ist er dann? Um das zu verstehen, müssen wir ein revolutionäres Konzept akzeptieren: Schmerz ist ein Ausgangssignal des Gehirns, kein Eingangssignal.
Dein Gehirn ist wie ein hochentwickeltes Sicherheitssystem, das ständig bewertet, ob du in Gefahr bist. Dafür analysiert es Faktoren, die weit über das reine Körpersignal hinausgehen:
- Die Informationen des Körpers: Was sagen deine Gefahrensensoren (Nozizeptoren)? Gibt es einen tatsächlichen oder potenziellen Schaden?
- Deine Erfahrungen und Ängste: Was hast du aus ähnlichen Situationen gelernt? Macht dir diese Situation Angst?
- Dein Allgemeinzustand: Wie ist dein Immunsystem aufgestellt? Hast du gut geschlafen? Lebst du mit Stress oder innerer Anspannung?
- Der aktuelle Kontext: Bist du an einem sicheren Ort oder immer noch in Gefahr?
Erst nachdem es all dies abgewogen hat, trifft dein Gehirn eine Entscheidung: Wenn es der Meinung ist, dass eine – reale oder potenzielle – Bedrohung für dein Wohlbefinden besteht, schaltet es den Schmerz-Alarm ein, um dich zum Handeln zu zwingen. Deshalb ist Schmerz im Wesentlichen eine Interpretation von Gefahr.
Dies deckt sich mit der offiziellen Definition der Internationalen Vereinigung zum Studium des Schmerzes (IASP), die Schmerz als „eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung“ beschreibt.
Die Magnetresonanztomographie (MRT): Schatzkarte oder Nebelwand?
Eine der grössten Quellen der Frustration für Patienten ist die Diskrepanz zwischen ihrem Gefühl und dem Befund der Magnetresonanztomographie (MRT). Das Bild wird als absolute Wahrheit wahrgenommen, aber die klinische Realität ist vielschichtiger.
Szenario 1: Der Befund ist „schlimm“, aber der Schmerz ist gering (oder nicht vorhanden)
Du erhältst einen Bericht mit den Worten „Bandscheibenvorfall“, „Arthrose“ oder „Degeneration“ und hast das Gefühl, dein Rücken sei für immer „kaputt“. Hier gibt uns die Wissenschaft Entwarnung. Eine wegweisende Übersichtsarbeit im American Journal of Neuroradiology hat gezeigt, dass ein Grossteil der völlig schmerzfreien Bevölkerung genau dieselben „Befunde“ aufweist. Sie sind oft Teil des normalen Alterungsprozesses, wie Falten auf der Haut, und nicht die direkte Ursache der Schmerzen.
Szenario 2: Der Befund ist „sauber“, aber der Schmerz ist real
Noch frustrierender ist der umgekehrte Fall: Du hast erhebliche Schmerzen, aber der MRT-Befund ist unauffällig. Dies kann zum Gedanken führen, der Schmerz sei „nur im Kopf“. Das ist falsch. Deine Schmerzerfahrung ist 100% real. Die Erklärung liegt meist in zwei grossen Bereichen, die auf einem Bild unsichtbar sind:
- a) Funktionelle Probleme: Oft überlasten ineffiziente Bewegungsmuster oder muskuläre Dysbalancen bestimmte Strukturen, lange bevor ein sichtbarer Schaden entsteht. Stell dir vor, du gehst den ganzen Tag mit einem leicht geknickten Fuss. Am Ende des Tages wird es wehtun, aber eine Röntgenaufnahme wird nichts finden. Dein Problem ist funktionell, eine Überlastung, kein struktureller Schaden.
- b) Ein überempfindliches Nervensystem: Manchmal ist die Ursache des Schmerzes, dass das Alarmsystem selbst zu empfindlich geworden ist. Dies leitet uns direkt zu der Frage, wie Schmerz chronisch wird.
Wenn das Alarmsystem hängen bleibt: Der Sprung zum chronischen Schmerz
Der akute Schmerz nach einer Verletzung ist nützlich und verschwindet normalerweise, wenn die Heilung fortschreitet. Manchmal gerät der Alarm aber ausser Kontrolle. Hier ist es entscheidend, die zwei Hauptwege zu verstehen, wie Schmerz chronisch werden kann:
- Anhaltender Schmerz mit aktiver Ursache: Der Schmerz bleibt, weil das zugrunde liegende funktionelle Problem (wie im Szenario 2a beschrieben) noch nicht gelöst ist. Die ineffiziente Belastung geht weiter und hält das Alarmsignal aktiv. Eine schlecht heilende Wunde oder ein biomechanisches Problem sind Beispiele dafür.
- Schmerz durch ein überempfindliches System: Hier ist die ursprüngliche Ursache (Verletzung oder Überlastung) verschwunden, aber der Schmerz bleibt. Es ist, als ob der Feueralarm im Gehirn eingeschaltet bliebe, obwohl das Feuer längst gelöscht ist. In der Wissenschaft ist dieses Phänomen als zentrale Sensibilisierung bekannt und wird von führenden Experten wie Jo Nijs als ein Zustand beschrieben, bei dem das Nervensystem in einer Art „Übererregbarkeit“ feststeckt.
Was du selbst tun kannst
Als Erstes solltest du die Vorstellung verbannen, dass es «normal ist, ab einem gewissen Alter mit Schmerzen zu leben». Das ist es nicht. Wenn du Schmerzen hast, stimmt etwas nicht. Und ausser bei sehr spezifischen Erkrankungen ist es möglich, ihnen ein Ende zu setzen.
Sobald du verstehst, dass Schmerz ein komplexes Signal ist, kannst du beginnen, auf seine vielfältigen Ursachen einzuwirken.
Deine ersten Schritte, um die Kontrolle zu übernehmen:
- Sicherheit geht vor – Echte Alarmsignale erkennen: Bevor du beginnst, die subtile Sprache deines Schmerzes zu deuten, musst du dir eines absolut sicher sein: dass er kein Anzeichen für einen medizinischen Notfall ist. Der fundamentale erste Schritt ist daher, die entscheidenden Alarmsignale (Red Flags) sicher zu erkennen.
- Werde zum Detektiv deiner Schmerzen: Anstatt sie nur zu erleiden oder systematisch zu betäuben, beobachte sie mit Neugier. Was verbessert sie? Was verschlimmert sie? Hat es mit Stress, Schlafmangel oder einer bestimmten Bewegung zu tun? Notiere es. Deinen «Feind» zu kennen, ist der erste Schritt, um ihn zu besiegen.
- Lerne, dich ohne Angst zu bewegen: Die Angst vor dem Schmerz führt zu Unbeweglichkeit, und Unbeweglichkeit führt zu mehr Schmerz. Durchbrich diesen Kreislauf. Finde eine Bewegung oder eine sanfte Aktivität, die du mit minimalem oder keinem Schmerz ausführen kannst. Das Ziel ist, deinem Gehirn eine klare Botschaft zu senden: «Sich zu bewegen ist sicher.»
- Reguliere dein Nervensystem: Wie wir gesehen haben, ist dein Allgemeinzustand von grundlegender Bedeutung. Priorisiere das Wesentliche: Verbessere deinen Schlaf, bewältige deinen Stress (mit Spaziergängen, Meditation, was auch immer dir hilft), achte auf deine Ernährung, integriere tägliche körperliche Aktivität… Du beruhigst das Alarmsystem von innen heraus.
- Lerne weiter: Genau das tust du gerade. Zu verstehen, was Schmerz ist und wie er funktioniert, nimmt dir die Angst. Und Angst ist der stärkste Verstärker von Schmerz. Wissen ist Macht.
Wenn du das Gefühl hast, dass du Unterstützung brauchst, um dich wieder sicher zu bewegen oder um deinen Fall besser zu verstehen, ist es entscheidend zu wissen, welcher therapeutische Ansatz für dich der richtige ist.
Schmerz als Wegweiser, nicht als Feind
Der Kampf ist nicht verloren, aber wir müssen anfangen, den Schmerz als das zu sehen, was er wirklich ist: ein Signal, dem man zuhören muss, um seine eigentliche Ursache zu finden.
Von da an besteht die Arbeit nicht darin, das Signal zum Schweigen zu bringen, sondern die Ursache zu finden und zu beseitigen, was auch immer sie sein mag. Manchmal kann die Unterstützung durch eine gute Fachperson (Arzt, Physiotherapeut oder Osteopath), die den Schmerz aus dieser umfassenden Perspektive versteht, der Wegweiser sein, den du brauchst.
Finde dich nicht damit ab, mit Schmerzen zu leben. Hör zu, was er dir zu sagen hat, und handle, damit er nicht für immer dein Lebensbegleiter bleiben muss.
Für dein Wohlbefinden,
Águeda
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